Mai 052013
 

Im September 2006 habe ich eine Geschichte mit dem Titel „I M“ geschrieben, die ich im Mai 2008 nochmals überarbeitete. Die Version von 2008 möchte ich euch heute vorstellen.

I M

Es ist düster und regnet leicht. Aber vielleicht kommt dieser dunkle Eindruck auch nur von dem hellen Lichttunnel, den ich eben verließ.
Etwas wackelig steige ich aus meinem Gefährt, lege die Automatik um und habe wenige Sekunden später ein kleines Spielzeugauto in der Hand. Ich stecke es ein und blicke mich um, erkenne einige Häuser. Sie sehen aus wie in meiner Kindheit, nur viel kleiner.
Dort ist der Hintereingang, auf den ich zustrebe, sobald ich ihn ausgemacht habe. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.
Schleichend schlüpfe ich durch die Hintertür. Ich höre Applaus und eine weibliche Stimme redet vom letzten Vortrag, bedankt sich für die Aufmerksamkeit, faselt etwas von Abschied und dass es schade wäre, dass der Abend so schnell verging.

Die Vorhänge sind so groß und schwer! Aber endlich finde ich eine Durchschlupfmöglichkeit. Auf der Bühne ist es hell, aber menschenleer. Ohne auf jemanden ringsum zu achten gehe ich vor zum Mikrofon. Keiner könnte mich jetzt mehr aufhalten.

Das Licht blendet mich, ich sehe nichts, räuspere mich kurz.
„Guten Abend!“
Alle im Zuschauerraum halten inne, setzen sich langsam wieder.
„Entschuldigen Sie, dass ich nicht eher kommen konnte, aber ich möchte Ihnen meine Geschichte gerne noch erzählen.“ Kurz blicke ich an mir herab, entdecke, dass ich den Anzug in Perlglanzeffekt an habe, hmm, gab es diesen Farbton damals nicht nur bei Autos? Egal, da muss ich jetzt durch! Vielleicht fällt es ja niemandem auf.

„Mein Name ist Alice Jerenson. Ich bin Professorin für Informationssysteme und werde Ihnen jetzt eine ungewöhnliche Geschichte erzähle. Ich hoffe sehr, dass Sie mir glauben, aber ob sie das tun, können nur Sie selbst entscheiden.“

Langsam werde ich ruhiger und kann in die erste Reihe blicken. Es ist still. Alle Augen starren gebannt nach vorn.
Etwas unsicher streiche ich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und rede weiter:
„Ursprünglich komme ich aus der Zukunft.“
Tief hole ich Luft, um gleich darauf fortzufahren:
„Es ist sicher schwer für Sie mir dies zu glauben, aber sehen Sie“, ich hole das kleine Auto aus der Tasche und halte es hoch, „dies ist meine Zeitmaschine.“
Einige Leute lachen, andere murmeln vor sich hin, wieder andere reden leise mit ihrem Nachbarn. Sehen kann ich das alles nur schemenhaft, zu hell ist es immer noch hier auf der Bühne und die Lichter blenden mich.

„Wenn ich den Spiegel auf der Fahrerseite nach vorne klappe, wird sie verkleinert und passt so in meine Hosentasche. Gleichzeitig soll sie die Eigenschaft haben so auszusehen wie ein richtiges Fortbewegungsmittel der jeweiligen Zeit, in der man landet. Es ist ein Prototyp und ich habe sie vor ein paar Stunden gestohlen um hier her zu kommen. Sie hat einen Hybridantrieb mit Sonnenenergie und Methangas. Das Gehäuse ist aus Fiberglas mit Ultrasensoren. Ein Unfall mit so einem Gefährt ist nahezu unmöglich.“
Jetzt gehört mir die Aufmerksamkeit im Saal wieder ganz. Etwas sicherer fahre ich fort:
„Ich habe vor einiger Zeit eine Möglichkeit entwickelt, Menschen, überall und zu jeder Zeit, zu überwachen. Natürlich konnte ich auf vorangegangene Forschungen aufbauen und auch die Gesetze im Staatenverbund Europa, wie er sich damals noch nannte, schufen ideale Möglichkeiten. Schließlich begann die Datenspeicherung ja schon als ich noch nicht einmal auf der Welt war. Das damalige Deutschland übernahm mit der Speicherung bionischer Daten und der umfassenden Straßenkontrolle, welche als Mautsystem geplant, dann aber weiter verfeinert wurde, eine Vorreiterrolle in dieser Beziehung. Handyortung, Onlinedurchsuchung und Bundestroyaner sagen Ihnen sicher etwas. Von der Datenspeicherung zur direkten Überwachung ist der Schritt nicht mehr so groß, auch wenn es mein Erfolg ist, den entscheidenden Impuls gefunden zu haben. Ich gebe zu, ich war stolz darauf und die Erfolge gaben mir ja auch recht.“

Es ist mucksmäuschenstill im Saal und ich fahre fort.
„Der Geheimdienst des Staatenverbundes hat mich besucht und den größten Teil meiner Erfindung … und mich … gekauft!“ Gemurmel im Saal lässt mich kurz inne halten. „Ja, ich weiß, aber was sollte ich denn tun? Ich brauchte das Geld und … und …“, resigniert hebe ich die Hände. „Bitte lassen Sie mich erklären worum es geht.“ Langsam verebbt das Gemurmel und es ist wieder still.
„Ich muss dazu etwas ausholen. Also, vor ungefähr zwanzig Jahren entwickelte ich eine Identitäts-Markierung, kurz I M. Diese, einmal in einem Menschen verankert, übermittelt Daten über den Aufenthaltsort des jeweiligen Trägers an eine Großrecheneinheit. Es gibt, in meiner Zeit, praktisch in jeder großen Stadt eine Großrecheneinheit. Die Abstände zwischen ihnen, betragen ca. hundert Kilometer.Die ganze Erde ist mit GREs, wie sie in Fachkreisen genannt werden, flächendeckend ausgerüstet, die Standorte sind halb geheim“, bei diesen Worten drehe ich meine rechte Hand etwas nach oben und unten, eine Unsicherheit andeutend, „außerdem sind sie bewacht. Im Laufe der Jahre wurde die I M so verkleinert, dass sie problemlos mit einer Spritze implantiert werden kann. Jedes Neugeborene bekommt seine Markierungsspritze mit dieser Nanosonde inzwischen wenige Stunden nach der Geburt. Darin enthalten sind Informationen über die Eltern, das Datum, der Ort und die Zeit der Geburt. Es ist ähnlich dem DNA-Code, nur trägt dieser weit weniger Informationen in sich. Jeder Mensch ist mit der I M innerhalb weniger Millisekunden von jedem Ortungssystem identifizierbar.
– zweifelsfrei identifizierbar! –
Jeder I M-Schlüssel ist einmalig! Können Sie sich annähernd die Bedeutung dieser Erfindung vorstellen?“

Die Stille im Saal wird drückend. So hat sich sicher keiner der Anwesenden den Abschluss des Abends vorgestellt.
Das ist mir egal. Im Moment ist nur wichtig was ich will, ich muss meine Mission beenden, die ich mir selbst gestellt habe. Also rede ich weiter:
„Egal wo ein Träger der I M sich befindet, egal was er gerade tut, er kann zu jeder Zeit und überall geortet werden. Für die Bekämpfung des Verbrechens ist dies natürlich von immenser Bedeutung, darauf bin ich auch sehr stolz, denn auf diesem Gebiet haben wir schon sehr große Erfolge erzielt und auch bei der Verhinderung von Krankheiten ist die I M von großer Wichtigkeit, aber …“, ich stocke und hänge hoffnungslos fest. Wie kann ich erklären, was mir selbst erst vor wenigen Stunden klar geworden ist?

„Sehen Sie, wenn Sie sich mit Ihren Freunden treffen, zusammen irgendwo etwas essen oder trinken gehen … der Geheimdienst ist unsichtbar dabei! Sie lernen jemanden kennen, verlieben sich, gehen zusammen nach Hause … der Geheimdienst weiß davon und kann sogar feststellen, wie oft und wo Sie sich treffen. Die Vorstellung ist erschreckend, finden Sie nicht auch?“
Ich bin ganz aufgeregt und zittere etwas. Noch immer kann ich die Menschen dort unten im Saal nur undeutlich erkennen. Meine Blicke suchen die Zuschauerreihen ab, finden aber nicht was sie suchen. Ein raunen geht durch die Reihen und alle werden unruhig. Etwas desillusioniert rede ich mir zu, dass ich die gesuchten Personen sowieso nicht erkennen würde. Also gebe ich mir einen Ruck und rede leise weiter:
„Ich kann Sie beruhigen, Sie selbst betrifft dies ja nicht mehr! Allerdings sind wir inzwischen soweit, dass die I M allen Menschen eingepflanzt wird, auch nachträglich. So gut wie jeder trägt in meiner Zeit die I M in sich, die meisten, ohne es zu wissen.“

Das Licht ist nicht mehr so unerträglich, meine Augen haben sich noch besser daran gewöhnt, denn inzwischen kann ich die Leute im Zuschauerraum alle sehen. Gebannt hängen sie an meinen Lippen.
Eigentlich bin ich am Ende, völlig fertig, aber da muss ich jetzt durch. Die Menschen hier im Saal haben ein recht darauf zu erfahren warum ich ihren wohlverdienten Feierabend durcheinander bringe, also rede ich weiter:
„Da ich immer noch mit der Weiterentwicklung betraut war, bin ich eine der wenigen, denen diese Markierung noch nicht implantiert wurde. Ich bin also frei. Frei in meinen Entscheidungen, wo und wie ich meine Zeit verbringe. Und jetzt kommen wir zu dem Punkt, an dem ich Ihnen erkläre, was mich dazu bewogen hat, Ihnen dies alles zu erzählen.“

Es ist wieder still im Saal. Ich habe das Gefühl, dass keiner zu atmen wagt. Ich muss mich aufraffen um weiter zu reden und merke, wie es mir gut tut, meine Bedenken und Sorgen endlich mit jemandem teilen zu können:
„Meine Chefin sagte mir heute, dass ich den jährlich anstehenden ärztlichen Untersuchungstermin schon morgen wahrnehmen soll. Normalerweise freut man sich, diese unumgängliche Prozedur bald hinter sich zu haben und eigentlich sollte ich mich ja auch freuen …“, es fällt mir trotz allem schwer, weiter zu sprechen.

„Aber, sie wies mich extra darauf hin, dass der Arzt sich meines kleinen Hörproblems annehmen würde. Ich weiß, dass die Identitäts-Markierung an einer unauffälligen Stelle hinter dem Ohr eingebracht wird. Schon nach wenigen Sekunden ist die Einstichstelle nicht mehr zu sehen und die I M verankert sich im ganzen Körper …“
Kurz blicke ich auf und suche vertraute Augenpaare im Zuschauerraum, kann sie aber nicht finden.
„Ich habe mir also die Zeitmaschine ausgeborgt. Viel Zeit bleibt mir nicht mehr, dann sie werden sicher bald hier sein um mich abzuholen, aber …“
Ich merke, wie ich meine Zeitmaschine krampfhaft in der Hand halte, als könne sie mir Kraft geben.
Eine lange Pause folgt, in der ich nicht weiter reden kann, Tränen rinnen meine Wangen hinab, als ich fortfahre:
„Meine Eltern sitzen unter Ihnen, sie wissen noch gar nicht, dass sie mich bekommen werden … Ich werde ihr zweites Kind sein, aber sie haben mir immer von diesem Abend hier erzählt, denn es war der letzte, an dem sie gemeinsam teilnahmen bevor das erste Baby kam. Mutsch? Paps? Bitte lasst mich nicht Informationssysteme studieren, wie sehr ich auch bettele! Glaubt mir, ich wäre in einem anderen Beruf wesentlich glücklicher!“

Plötzlich spüre ich, wie sich die Zeitmaschine beginnt in meinen Händen aufzulösen. Jetzt muss ich weg, bevor hier ein Unglück geschieht. Ich höre ein Schluchzen aus dem Publikum, sehe ein Paar in einer der mittleren Reihen aufstehen, die Frau hat einen gewölbten Bauch. Die Hand es Mannes liegt auf ihm und beide streicheln den Bauch irgendwie andächtig. Woher wissen sie, dass sie gemeint sind? Aber sie sind es. Ich erkenne sie, kenne ihre Gesichter, nur wenige Jahre älter – und viele Jahre älter. Es gibt ein Foto, im Sonnenschein vor dem Gebäude fotografiert, hing es im Flur unseres Hauses. Jetzt erst erkenne ich, dass es von diesem Abend sein musste.
Unsere Augen suchen und finden sich für Bruchteile von Sekunden, dann drehe ich mich um und renne … Applaus brandet auf und kurz nachdem ich den Vorhang passiere, spüre ich, wie ich mich auflöse.

Liebe Grüße

cat
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  2 Antworten zu “I M”

  1. Wow, liebe cat,

    was für eine aufregende, super erdachte Geschichte!! Mir fehlen die Worte …

    Herzlichst
    Manu

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