Apr 202013
 

Die Geschichte, die ich euch heute erzählen möchte, ist schon etwas älter, von 2004. Aber sie beschreibt einen Wendepunkt in meinem/unserem Leben, an den sich sicher alle, die dabei waren, erinnern.

Der Tag, der mein Leben veränderte

Alles war wie immer. Es war abends um sieben Uhr und wir saßen zu Hause am Tisch im Esszimmer beim Abendbrot, mein Mann Thomas, ich und die Kinder. Jan war drei und Tine ein Jahr alt, ich achtete darauf, dass sie nicht zu spät ins Bett kamen. Außerdem wollte ich unbedingt die Sondersendung der ‚Aktuellen Kamera’ im Fernsehen schauen. In dieser Zeit, in der sich alles im Umbruch befand, war mir das sehr wichtig.
Jeden Montag waren Demos, die bekanntesten fanden wohl in Leipzig statt. Welch ein Wochentag dieser 9. November 1989 war, weiß ich gar nicht mehr, nur, dass ich unbedingt die Nachrichtensendung sehen musste.
In Berlin fand eine Tagung des Zentralkomitees statt. Günther Schabowski, Mitglied des Politbüros der SED, wurde auf einer Pressekonferenz, die live in der ‚Aktuellen Kamera’ zu sehen war, gefragt, ob es neue Regelungen zum Reiserecht der DDR-Bürger gäbe. Seine knappe Antwort, die er von einem unscheinbaren Zettel ablas, lautete:
„Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen – wie Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse – beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.“


Nach diesem ersten Satz war ich aufgestanden und ins Wohnzimmer gelaufen, wo unser Fernseher war. Ich hatte schon lauter gestellt, um auch beim Essen alles zu hören, aber jetzt wollte ich alles ganz genau mitbekommen.

Unter den Journalisten auf der Pressekonferenz herrschte einige Verwirrung, und als Schabowski gefragt wurde, wann diese Verfügung denn in Kraft trete, antwortete er:
„Das trifft, nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich“.

Da stand ich nun im Türrahmen und glaubte mich verhört zu haben.
Privatreisen ohne Vorliegen von Voraussetzungen? So ein blödes Amtsdeutsch! Etwas hilf- und ratlos schaute ich zu meinem Mann.
Ich konnte es nicht fassen! Er hatte kaum etwas mitbekommen von der Pressekonferenz und dachte sicher ich spinne, als ich den Fernseher noch lauter machte.
Freude durchdrang mich. Das hieß jetzt, wir können unsere Verwandten besuchen, wann immer wir wollen! Vielleicht sogar mit dem Auto!?
Innerlich total aufgewühlt setzte ich mich wieder an den Tisch und kümmerte mich um die Kinder. Nach dem Essen badete Thomas die beiden – ich wollte wissen was passiert, zappte mich durch alle Kanäle. Wollte einfach bestätigt bekommen, dass ich mich nicht getäuscht hatte.

Später am Abend, bei den Tagesthemen, sahen wir, was in Berlin los war.
Die Leute waren ganz aus dem Häuschen. Tanzten auf der Mauer! Ich konnte es gar nicht fassen. Jetzt würde ich mit der ganzen Familie zu den Verwandten im anderen Deutschland fahren können.
Später gingen wir dann zu Bett, aber die Gedanken an die Ereignisse der letzten Stunde wollten mich nicht schlafen lassen. Thomas schnarchte neben mir. Oh Mann, wie kann man nur so seelenruhig schlafen, während da draußen Geschichte geschrieben wird!?
Tausende von Gedanken durchzogen mein Gehirn. Wie wird es sein? Gefühle – Freude, Vorfreude, aber auch ein wenig Angst. Was wird noch alles passieren?
Irgendwann übermannte mich dann ein unruhiger Schlaf voller wirrer Träume.

Am nächsten Morgen kamen etliche Kollegen nicht zur Arbeit. Viele hatten sich noch in der Nacht aufgemacht, um nach Bayern zu fahren. Wir wohnten im Bezirk Gera, der heute zu Thüringen gehört, also gerade mal 100 Kilometer von der Grenze entfernt.

Auf die Idee, noch in der Nacht die neugewonnene Freiheit auszuprobieren, waren wir gar nicht gekommen. Aber das wäre sowieso nicht gegangen, wir hätten die Kinder nie so lange allein gelassen und nachts mit den beiden draußen herumfahren? Nein!

Doch wir wollten auch wissen wie es ist, einfach über diese verhasste Grenze zu fahren, also verabredeten wir uns mit Bekannten und Verwandten, um am Wochenende gemeinsam nach Hof in Bayern zu fahren.
Samstag früh um acht Uhr sollte es losgehen. Aber wer nicht kam, war unser Fahrer Bernd. Die Zeit verstrich und nicht nur die Kinder wurden unruhig. Ich lief im Garten und auf dem Hof hin und her. Immer wieder schaute ich auf die Straße. Langsam begann ich mir Sorgen zu machen. Endlich, nach fast einer Stunde, hielt das Auto von Bernd vor unserem Haus. Fröhlich pfeifend stieg er aus und begrüßte uns.
Wie sich herausstellte gab es ein Missverständnis bei der Abfahrtszeit. Bernd hatte von einem Bekannten eine andere Zeit gesagt bekommen als wir.

Aber jetzt war er ja da und es konnte endlich losgehen! Wir stiegen alle ins Auto und Bernd fuhr mit uns zu dem vereinbarten Treffpunkt. Dort begrüßten wir die anderen und fuhren dann in einer kleinen Kolonne von drei Autos auf die Autobahn. An diesem Samstag war die Autobahn sehr voll. Die meisten Autos fuhren in Richtung Bayern.
Als wir nach einiger Zeit am Grenzübergang ankamen, schauten wir wie gebannt auf die ganzen Absperrungen. So weit konnten wir bisher nie auf dieser Autobahn fahren.

Auf dem Parkplatz an der Grenze hielten wir an und liefen zu dem Grenzhäuschen. Dort zeigten alle die Personalausweise und jeder bekam einen Stempel hinein gedrückt. Die Grenzer waren freundlich, anders als ich sie von meiner Reise mit dem Zug im letzten Jahr in Erinnerung hatte.
Als wir weiter fuhren, bereitete ich die beiden Männer vor mir noch einmal auf das vor, was sie bald erleben würden. Überquellende Regale. Eine Auswahl in den Geschäften, die einem beim ersten Sehen sofort den Atem verschlägt.
Es gab alles! Man brauchte nicht schon am Eingang in die Körbe der anderen zu sehen um zu wissen was es besonderes gab. Außerdem war alles bunt und sehr verlockend angeordnet.

Inzwischen war bekannt, dass jede Familie ein Begrüßungsgeld bekommt.
In Hof angekommen hieß es also erst einmal anstehen. Aber das waren wir ja gewohnt. Ganz ordentlich, in Reih und Glied, standen die gelernten DDR-Bürger in großer Zahl vor dem Rathaus in dem das Begrüßungsgeld ausgezahlt wurde.

Endlich waren wir an der Reihe. Alle waren sehr freundlich, obwohl sie sicher schon seit Stunden hinter ihren Schreibtischen saßen und Geld auszahlten. Zu dieser Zeit freute sich noch jeder über die unverhoffte Wende in der deutschen Geschichte.

Wir gingen in ein Einkaufszentrum. Ladenöffnungszeiten kannte in diesen Tagen auch keiner. Sogar am Sonntag sollten die Geschäfte für die Ostdeutschen geöffnet werden.
Ein paar Bananen für die Kinder und etwas zu spielen, das waren die ersten Einkäufe an diesem Tag. Nach einiger Zeit zog ich mich mit den Kindern in einen kleinen Park zurück. Bernd und Thomas gingen ein wenig durch die Einkaufsmeile und schauten sich die Schaufenster an.
Ich lief mit Jan und Tine im Park auf den Wegen entlang.
Auf einer Seite, gegenüber vom Brunnen, stand ein Automat. Er zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ein großer Kasten, bunt verziert. In der Mitte eine Scheibe, rechts oben ein Schlitz für Geldstücke und unten in der Mitte ein größeres Fach, welches fast die gesamte Breite des Automaten einnahm. In mehreren Sprachen war zu lesen:
„Versuche dein Glück! Du wirst Dinge erfahren die dein Leben verändern können. Du wirst wissen wie es weiter geht! Ich, Serisa, bin allwissend!“
Hm, etwas unschlüssig stand ich davor. Sollte ich ein Fünfzig-Pfennig-Stück von dem wertvollen Geld opfern?
Meine Neugier siegte und ich öffnete meine Geldbörse, fischte eins heraus, schob es in den Schlitz und drückte den Knopf, auf den ein großer Pfeil zeigte.

Erschrocken sprang ich mit einem kleinen Ausruf des Entsetzens zur Seite. Im Inneren des Automaten bewegte sich etwas, ein Kopf presste sich an die Scheibe und drohte sie zu zerbrechen. Etwas schien sich aus dem Inneren zu drängen. Der Kopf durchschlug die Scheibe und binnen weniger Sekunden stand eine alte Frau vor mir.
„Ich bin Serisa und verkünde dir:
du wirst noch ein Kind bekommen und neue Dinge erfahren, Ausdrucksmöglichkeiten für dich finden, an die du noch nicht mal im Traum denkst … und irgendwann wirst du glücklich sein! Aber der Weg bis dahin ist steinig und schwer. Gib nie auf und du wirst es schaffen!“
In einer Nebelwolke verschwand die Alte. Vor mir stand wieder der Automat, so als wäre nichts passiert.
Ich drehte mich um und setze mich auf eine Bank, die in der Nähe stand. Diesen Schreck musste ich erst einmal verdauen.

Die Kinder hatten von all dem nichts mitbekommen. Fröhlich plappernd fragte mich Jan wann wir denn endlich wieder zum Papa gehen und es etwas zu essen gibt. Wir verließen den Park und trafen am Ausgang auf Bernd und meinen Mann. Die beiden hatten auch Hunger und so gingen wir in eine Pizzeria und ließen uns ein vorzügliches Essen schmecken. Alle in der Pizzeria waren sehr freundlich, man brachte Kinderstühlchen und die Kinder durften nach dem Essen im ganzen Restaurant herumlaufen. Gesättigt brachen wir auf und trafen die anderen bevor wir wieder gen Heimat zogen.

In all den Gesprächen die wir danach über diesen Tag führten, erwähnte ich nie die alte Frau, getreu dem Motto:
„Reden ist Silber, Schweigen ist Gold!“, aber als etwas über ein Jahr später unser drittes Kind geboren wurde, erschien Serisa mir erneut in einem Traum.
„Wenn du nur Mut hast und nie aufgibst, wirst du alles schaffen was du willst!“ flüsterte sie immer wieder.

Seit dieser Zeit träume ich, immer wenn es mir schlecht geht, von Serisa. Sie macht mir Mut nie aufzugeben, wie schwer mir auch manches erscheint. Bisher habe ich noch keinem Menschen von ihr erzählt, ihr seid die ersten die von ihr erfahren. Ich hoffe sie wird mich weiter begleiten und mir Mut machen, wenn mal wieder alles aussichtslos scheint.
Übrigens, diese Geschichte hier, ist eine der neuen Ausdrucksmöglichkeiten die Serisa mir voraussagte.

Liebe Grüße

cat

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 Veröffentlicht von am 20. April 2013 um 03:00  Kennzeichnung:

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