Jul 282013
 

Am Freitag bei der Lesung auf der Fähre, von der ich schon berichtete, las ich meine folgende Geschichte.

Der Wassermann aus dem Teichtal
catsoul © 22.07.2013

In dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin, gibt es ein Sommerbad. Warum es ausgerechnet Sommerbad und nicht Freibad heißt, weiß ich nicht. Es war in meiner Kindheit immer von Mai bis September geöffnet und befindet sich im Teichtal, am entgegengesetzten Ende der Kleinstadt. Wir fuhren oft mit dem Fahrrad dahin. Im Teichtal befinden sich, wie der Name schon sagt, einige Teiche und am Ufer des einen war eine große Liegewiese, ein Planschbecken für die kleineren Kinder und ein befestigtes Nichtschwimmerbecken, welches einseitig und am Boden mit Fliesen verkleidet war. Umsäumt wurde dieser Abschnitt von zwei Stegen, die bis zum Ende des Schwimmbereichs reichten. An einem der Stege gab es einen Drei-Meter-Sprungturm mit einem zusätzlichen Ein-Meter-Brett. Seitlich waren Startblöcke, von denen man ebenfalls ins Wasser springen konnte. Am Ende des Schwimmbereichs befanden sich Bojen und wenn man darüber hinaus schwamm, meldete sich sofort der Bademeister über Lautsprecher und man wurde gewarnt.
Mit Ruder- oder Tretbooten konnte man den ganzen Teich erkunden.


Die Geschichte, die ich euch heute erzählen möchte, trug sich im letzten Sommer unserer Schulzeit zu. Im Sportunterricht gingen wir, so oft das Wetter es zuließ, ins Sommerbad. Natürlich wurden wir dazu aufgefordert keinen Blödsinn zu machen, aber vom Drei-Meter-Turm zu springen gehörte nicht dazu. Also sprangen wir. Ich hielt mir immer die Nase zu und schloß meine Augen, wenn ich die Kerze ins Wasser sprang. Meine Freundin Rosalie war viel mutiger, sie sprang Kopfüber und machte auch unter Wasser ihre Augen auf. Eines Tages erzählte sie mir, dass sie unter Wasser einen Mann gesehen hätte, der außerhalb der Bojen schwamm und die Springer aus dem Wasser heraus beobachtete. Ich glaubte ihr nicht.
Später berichtete Rosalie, dass der Mann sie am Bein berührt hätte.
Ich hielt sie für verrückt, beobachtete aber, dass sie inzwischen viel länger tauchte, wenn sie gesprungen war. Da ich mich aber nicht traute meine Augen unter Wasser zu öffnen, gab ich die Hoffnung auf, hinter ihre Erzählungen zu kommen. Sooft wir schwimmen gingen, sooft erzählte sie von dem Mann im Wasser. Es ging bald in eine leichte Schwärmerei und später in eine handfeste Verliebtheit über. In der folgenden Zeit wurde meine Freundin immer komischer. Jeden Tag wollte Rosalie unbedingt ins Bad, auch wenn das Wetter trüb oder regnerisch war. Oft tat ich ihr den Gefallen und fuhr mit hin, es waren inzwischen Ferien und wir hatten eh nichts Besseres zu tun.

Eines Tages, wir fuhren gerade Boot, zeigte sie ins Wasser und ich sah eine Gestalt. So genau kann ich sie nicht beschreiben, sie sah undurchsichtig und irgendwie wässern aus, leicht grünlich, mit langen Zottelhaaren und hatte Schwimmhäute zwischen den Fingern. So schnell wie die Gestalt aufgetaucht war, war sie wieder verschwunden. Keine Welle trübte das Wasser, der Teich um uns herum lag still, als wäre nichts geschehen.
Von nun an glaubte ich meiner Freundin, die mir immer wieder von ihren Begegnungen mit dem Wassermann berichtete. Eines Morgens erzählte sie mir, dass sie am Vorabend nochmals alleine ins Bad gefahren war. Als das Bad geschlossen wurde und sich keine Gäste mehr vor Ort befanden, kletterte Rosalie heimlich über den Zaun beim Fahrradständer und verbrachte die beginnende Dämmerung am Bootssteg.
Ins Wasser traute sie sich um diese Zeit nicht mehr. Aber das war auch nicht nötig, denn der Wassermann kam nahe an den Steg heran, tauchte halb auf und gab ihr erstmals die Gelegenheit einen wasserfreien Blick auf sich zu werfen.

Er sprach nicht sondern kommunizierte mit ihr über Gedankenübertragung. Er zeigte ihr Bilder von seinem Haus im nahen Teich, der größer als der Badeteich war. Und er fragte sie, ob sie ihn besuchen wolle. Sie solle es sich überlegen, denn der Sommer würde bald vorbei sein und er würde sie gerne zur Frau nehmen, denn er liebe sie.
Jetzt zweifelte ich endgültig am Verstand Rosalies. Aber sie sagte, sie hätte sich ebenfalls unsterblich verliebt und würde überlegen ihm zu folgen.

Das war der Zeitpunkt, an dem ich mit Erwachsenen über unsere Beobachtungen hätte sprechen müssen. Aber ich war naiv und wusste nicht, was Liebe und Sehnsucht mit Menschen anrichten kann. Und dann hatte ich auch Zweifel, ob mir jemand glauben würde.
Ein Wassermann in unserem Badeteich! Wer glaubt denn schon an solche Märchen?

Nun, ich tue es. Heute noch mehr als damals. Denn zwei Tage später sah ich meine Freundin das letzte Mal. Sie fuhr alleine ins Sommerbad. Weil es bei uns zu Hause eine Feier gab und ich mit helfen musste, konnte ich nicht mit ihr fahren. Ich bat Rosalie inständig, nicht zu gehen, aber sie hörte nicht auf mich und verschwand spurlos.
Nein, nicht ganz spurlos, denn am nächsten Morgen fand man ihre Sachen auf dem Steg und ihren Bikini am Ufer des Badesees. Ihre Leiche fand man nicht und so hege ich immer noch die leise Hoffnung, dass es ihr gut geht, dort wo sie jetzt ist.

Davon, dass jemals wieder jemand einen Wassermann in den Teichen der Umgebung gesehen hat, habe ich nichts gehört. Aber manchmal, wenn ich zu Besuch in der Kleinstadt bin, gehe ich an den Teichen spazieren und wenn es ganz still ist, höre ich eine leise Stimme in meinem Kopf flüstern: „Es geht mir gut. Ich habe mein Glück gefunden und wünsche dir das gleiche!“
Das entlockt mir dann immer einen tiefen Seufzer und manchmal bin ich versucht zu flüstern: „Mir geht es auch gut. Ich bin glücklich und denke an dich.“
Doch ich schüttle nur meinen Kopf und streiche über die Gänsehaut an meinen Armen …

Liebe Grüße

cat
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