Mrz 042016
 

Heute das Chanson des Monats März – von Thomas Pigor – SWR2

Europa

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Europa

Wir stachen in See vor mehr als sechzig Jahrn
Anfangs warn wir nur sechs in unserem Kahn

Im Laderaum hatten wir Kohle und Stahl
Und einen Sack voller Träume als Startkapital

Langsam wurden wir mehr, es ging auf und davon
Über Rom, Maastricht und Lissabon

Nein, die meiste Zeit fuhrn wir mit halber Kraft
Lissabon, weiter haben wirs nicht geschafft

Und das Schiff heisst Europa, das Meer ist die Zeit
Wir steuern durch die Wellen der Unwägbarkeit
Und der Wind bläst von vorn
Uns umnebelt die Gischt
Während ein Brecher nach dem anderen auf die Planken drischt

Der Laderaum ist jetzt zum Bersten voll
Mit Immobilien, Autos und Alkohol

In der ersten Klasse steht ein Riesenbuffet
Wo Typen, die aussehn wie Gérard Dépardieu

Die Reste verteilen, doch achten sie scharf
Darauf wer und wer nicht davon essen darf

Damit nicht alles aufs Oberdeck drängt
Überlegen sie, wie man am Besten die Treppen verengt

Und das Schiff heisst Europa und es fährt durch die Zeit
An Bord sind Kraftmeierei und Kurzsichtigkeit
Und uns´re ewigen Macchiavelli – Adepten
Die starken Männer mit den alten Patentrezepten
Erklären schon bei der kleinsten Gefahr:
„Genug jetzt, ich mache mein Rettungboot klar!“
Dabei zeigt sich schon lange am Horizont
Mehr als eine Schlechtwetterfront
Statt in den Maschinenraum renn´n die Idioten
Zu den vermeintlich sicheren Rettungsbooten

Und Schiffbrüchige treiben wortwörtlich im Meer
Von der Reling aus droht man ihnen mit dem Gewehr

Manche schaffens an Bord, doch von der tapferen Crew
Schließt einer nach dem andern seine Kabine zu

Und auf der Brücke stehn 28 souveräne
Demokratisch gewählte Kapitäne
Und stelln sich bis nachts um Fünf Ultimaten
Und streiten sich um die Zielkoordinaten
Wo steuert es hin unser schönes Projekt
Die Kompromissmaschine ist defekt

Und das Schiff heisst Europa und es fährt durch die Zeit
Unsre Stärke wär eigentlich unsre Konsensfähigkeit
Der Interessensausgleich, Demokratie
Theoretisch. Vielleicht sogar sowas wie Empathie

Anstatt dass jetzt die Intellektuellen
Europas über die Bordsprechanlage die Frage stellen
„Wie organisiern wir jetzt unsre Seetüchtigkeit?“
Signalisiern sie vor allem Müdigkeit

Und von den Nachbarschiffen, von hinten von vorn
Tutet es SOS mit dem Nebelhorn
Alles so schrecklich, blutrünstig und obszön
Dass dem Songschreiber glatt die Metaphern ausgehn …
Musik und Text: Thomas Pigor

Schönes Wochenende!
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 Veröffentlicht von am 4. März 2016 um 22:13  Kennzeichnung: